Das Pigment bröckelte unter Elenas behutsamen Bewegungen. Winzige Farbpartikel, einst leuchtend rot, nun zu einem matten Braun verblasst, rieselten auf das weiße Tuch, das sie unter dem Gemälde ausgebreitet hatte. Vor über zweihundert Jahren hatte ein Künstler diesen Farbton mit Quecksilbersulfid und organischen Bindemitteln angerührt, ohne zu ahnen, dass seine Schöpfung eines Tages unter Elenas Mikroskop und Skalpell liegen würde.
„Jahrhunderte", murmelte sie, während sie mit geübten Fingern die nächste Schicht freilegte. „Und trotzdem verrätst du mir deine Geheimnisse."
Elena Winters arbeitete im großzügigen Restaurierungsatelier des Friedrich-Museums in Berlin, umgeben von Spezialinstrumenten, Chemikalien und Referenzwerken. Die hohen Fenster ließen gleichmäßiges Nordlicht herein -- das ideale Licht für ihre präzise Arbeit. Das spätbarocke Gemälde, eine Darstellung der Göttin Diana bei der Jagd, war seit drei Wochen ihr Projekt. Es war eine Herausforderung, doch genau das machte die Arbeit für sie so befriedigend.
Elenas Handy vibrierte auf dem Arbeitstisch. Sie ignorierte es. Der Bereich um Dianas rechtes Auge bedurfte ihrer vollen Konzentration -- zu viele übermalte Schichten, zu viel Firnis, aufgetragen von wohlmeinenden, aber unkundigen Restauratoren vergangener Jahrhunderte. Ihre Aufgabe war es, durch all diese Schichten zum Original vorzudringen, ohne es zu beschädigen.
Das Telefon vibrierte erneut. Elena seufzte, legte ihr Skalpell beiseite und streifte die Latexhandschuhe ab. Es war Direktor Schumann, wie die Anzeige verriet. Der Museumsdirektor rief sie selten direkt an; normalerweise kommunizierte er über seine Assistentin oder E-Mail.
„Winters", meldete sie sich knapp.
„Elena, gut, dass ich Sie erreiche." Die Stimme des Direktors klang ungewöhnlich enthusiastisch. „Könnten Sie in einer halben Stunde in meinem Büro sein? Ich habe jemanden hier, der Sie kennenlernen möchte."
Sie blickte auf das halb restaurierte Gemälde. „Ich bin mitten in der Arbeit an der Diana, Herr Direktor."
„Das kann warten. Diese Gelegenheit nicht."
Elena unterdrückte ein Seufzen. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, dass Zeit relativ war. Für sie bedeuteten Minuten manchmal den Unterschied zwischen erhaltener und zerstörter Geschichte. Für Administratoren wie Schumann waren Termine und Netzwerkgespräche wichtiger.
„In Ordnung. Dreißig Minuten."
Sie legte auf und begann methodisch, ihren Arbeitsplatz zu sichern. Das Gemälde wurde sorgfältig abgedeckt, die Instrumente gereinigt und die Chemikalien verschlossen. Elena zog ihren weißen Laborkittel aus und betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ihr rotbraunes Haar war zu einem strengen Knoten gebunden, ihre Kleidung -- eine schlichte schwarze Hose und eine graue Seidenbluse -- war zweckmäßig und unauffällig. Die einzige Extravaganz, die sie sich erlaubte, war eine antike Brosche aus Silberfiligran -- ein Erbstück ihrer Großmutter und ein subtiler Hinweis auf ihre Verbundenheit mit der Vergangenheit.
Auf dem Weg zum Direktorenbüro passierte Elena die öffentlichen Galerien des Museums. Touristen und Kunstliebhaber schlenderten zwischen den Meisterwerken umher, nahmen Selfies vor Gemälden oder hörten aufmerksam den Erklärungen der Museumsführer zu. All diese Menschen sahen nur die glänzende Oberfläche -- den vollendeten Restaurierungsprozess, die polierte Präsentation. Die mühsame Arbeit, die sie und ihre Kollegen im Verborgenen leisteten, blieb unsichtbar.
Genau so wollte Elena es haben. Sie arbeitete lieber im Hintergrund, tauchte ein in die Intimität der Kunstwerke, lernte ihre Geheimnisse kennen. Die Rampenlichtmomente überließ sie gerne anderen.
Schumanns Büro lag im historischen Flügel des Museums, ein hoher, mit dunklem Holz getäfelter Raum mit Blick auf den Museumspark. Als Elena nach kurzem Klopfen eintrat, erhob sich der Direktor hastig von seinem Schreibtisch.
„Ah, Frau Winters! Kommen Sie herein, kommen Sie herein."
Schumann war ein korpulenter Mann mit schütterem Haar und einer Vorliebe für teure, maßgeschneiderte Anzüge. Im Gegensatz zum klischeehaften zerstreuten Museumsdirektor war er ein scharfsinniger Administrator und brillanter Fundraiser -- Qualitäten, die das Museum dringend brauchte, um in Zeiten knapper öffentlicher Kassen zu überleben.
Ein zweiter Mann stand am Fenster, den Rücken zu ihr gewandt. Er drehte sich langsam um, als Elena den Raum betrat. Groß, schlank, in einem perfekt sitzenden dunkelgrauen Anzug, der selbst Schumanns Garderobe in den Schatten stellte. Elena schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Sein Gesicht war markant geschnitten, mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase, die an klassische Skulpturen erinnerte. Sein Haar, tiefschwarz und an den Schläfen leicht angegraut, war kurz und präzise geschnitten. Doch es waren seine Augen, die Elenas Aufmerksamkeit auf sich zogen -- dunkel, durchdringend und von einer Intensität, die sie unwillkürlich an die Porträts alter Renaissance-Meister denken ließ.
„Frau Winters", begann Schumann, seine Stimme eine Nuance zu enthusiastisch, „darf ich vorstellen: Marcus Castellano."
Der Mann trat vor und reichte Elena die Hand. Sein Händedruck war fest und trocken, seine Haut kühl.
„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Frau Winters", sagte er mit einer Stimme, die überraschend warm klang, im Kontrast zu seiner kühlen Erscheinung. Ein leichter Akzent war zu hören -- mediterran, vielleicht italienisch oder spanisch.
„Herr Castellano ist der Besitzer des Castellano-Privatmuseums", erklärte Schumann. „Eine der bedeutendsten privaten Kunstsammlungen Europas."
Elena nickte knapp. Der Name Castellano war ihr bekannt, wenn auch nur am Rande. Eine alte europäische Familie, Kunstsammler seit Generationen, ihr Privatmuseum legendär, aber notorisch schwer zugänglich für die Öffentlichkeit.
„Bitte, setzen wir uns", forderte Schumann sie auf und deutete auf die Sitzgruppe in der Ecke des Büros.
Elena nahm auf einem der Ledersessel Platz, Castellano ihr gegenüber. Schumann platzierte sich auf einem dritten Sessel, leicht abseits, als wolle er bewusst die Interaktion zwischen seinen Gästen beobachten.
„Herr Castellano hat ein faszinierendes Angebot für Sie", begann der Direktor.
Castellano lehnte sich leicht vor. „Ich habe Ihre Arbeit an der Sammlung der flämischen Meister verfolgt, Frau Winters. Besonders Ihre Restaurierung der verlorenen Details in Van Dycks 'Dame mit dem Hermelin' war... bemerkenswert."
Elena hob überrascht eine Augenbraue. Die Van Dyck-Restaurierung war ein komplexes Projekt gewesen, das sie vor zwei Jahren abgeschlossen hatte. Es hatte in Fachkreisen einige Aufmerksamkeit erregt, aber sie hätte nicht erwartet, dass jemand außerhalb dieser Kreise davon Notiz genommen hatte.
„Danke", erwiderte sie neutral. „Es war ein herausforderndes Projekt."
„Sie waren nicht nur herausfordernd, Sie haben etwas zurückgebracht, das für verloren gehalten wurde", sagte Castellano. Seine Augen ruhten unverwandt auf ihr, als suchte er nach etwas in ihrem Gesicht. „Diese Fähigkeit, verborgene Schichten zu enthüllen, ohne das Wesentliche zu zerstören -- das ist eine seltene Gabe."
Elena spürte ein leichtes Unbehagen. Sie war nicht gewohnt, so direkt beobachtet zu werden, noch weniger, so explizit gelobt zu werden. Ihre Arbeit sprach für sich selbst; sie brauchte keine verbalen Lorbeeren.
„Worum geht es, Herr Castellano?"
Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als hätte er genau diese direkte Reaktion erwartet.
„Mein Privatmuseum beherbergt eine umfangreiche Sammlung, die seit Generationen in meiner Familie ist", begann er. „Das Gebäude selbst ist ein historisches Juwel -- ein Stadtpalais aus dem frühen 19. Jahrhundert mit Elementen aus verschiedenen Epochen. In den letzten Jahren habe ich es umfassend renovieren lassen, aber..." Er machte eine kurze Pause. „Es gibt Bereiche, die einer speziellen Expertise bedürfen."
„Was für Bereiche?", fragte Elena.
„Unter anderem ein Freskenzyklus aus dem späten 18. Jahrhundert, der sich in der Haupthalle befindet. Er ist in einem besorgniserregenden Zustand -- teilweise übermalt, teilweise beschädigt durch frühere unsachgemäße Restaurierungsversuche."
Elena nickte langsam. Fresken waren eine besondere Herausforderung -- die Verbindung von Pigment und Putz machte sie anfälliger für Umwelteinflüsse als Leinwandgemälde.
Die Geschichte setzt sich mit der Beschreibung von Elenas Entscheidung fort, das Angebot anzunehmen und ihrer Ankunft im Castellano-Museum in Italien, wo sie Sophia Melendez, die Kuratorin, trifft und in ihre luxuriösen Räumlichkeiten gebracht wird. Das Kapitel endet mit dem geheimnisvollen Fund einer verschlossenen Tür und der rätselhaften Notiz: "Nicht alle Türen sind zum Öffnen bestimmt. Noch nicht."