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Zwischen Herz und Verstand

Emotionale Trilogie über junge Erwachsene auf der Suche nach sich selbst

Verborgene Gefühle
Verborgene Gefühle
Kapitel 1: Die Nachricht, die alles veränderte

Die Bibliothek war wie immer ein Zufluchtsort. Lena Winter atmete tief den vertrauten Geruch nach altem Papier ein, während ihr Blick durch den Raum schweifte. Die Stille eines Donnerstagnachmittags war ein angenehmer Kontrast zum lauten Trubel draußen, wo die anderen Studenten in Gruppen zusammenstanden, lachten und redeten - ein soziales Spiel, bei dem sie nie die richtigen Karten in der Hand hatte. "Warum fällt es mir so schwer, mit anderen zu reden?", fragte sie sich zum hundertsten Mal.

Diese Frage nagte ständig an ihr, besonders wenn sie andere Studenten beobachtete, die nach gerade mal drei Monaten an der Uni bereits enge Freundschaften geschlossen hatten. Freundschaften, die nach etwas Echtem aussahen, nicht nach den oberflächlichen Bekanntschaften, die sie in der Schule gehabt hatte. Sie strich über die Buchrücken in der Abteilung für deutsche Literatur, ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich.

Professor Kleinschmidt hatte ihnen für das Seminar „Realismus und gesellschaftliche Strömungen" eine Liste mit Primärliteratur gegeben. Anders als ihre Kommilitonen, die alles digital lasen, brauchte Lena das Gefühl von Papier unter ihren Fingern - eine Verbindung zur Vergangenheit, die ihr Halt gab, wenn die Gegenwart zu kompliziert wurde. Das war einer der Gründe, warum sie sich für Literaturwissenschaften entschieden hatte - hier konnte sie mit Menschen kommunizieren, die längst gestorben waren, ohne zu stottern oder rot zu werden.

Durch Literatur verstand sie die Welt besser als durch direkte Erfahrung. "Du verschwendest deine besten Jahre zwischen verstaubten Büchern", hatte ihre Mutter beim letzten Besuch gesagt. Der Ton besorgt, die Augen voller Unverständnis. "Das Leben passiert da draußen, nicht auf Papierseiten." Lena biss sich auf die Lippe. Es war ihr drittes Semester, und während ihre Mitbewohnerin vom letzten Wochenende schwärmte - irgendein Typ namens Marc und zu viel Wodka - und ihre ehemalige Schulfreundin Sophie jeden zweiten Tag Fotos von Dates postete, verbrachte sie ihre Freitagabende mit fiktiven Charakteren.

"Ich bin einundzwanzig und habe noch nie einen richtigen Freund gehabt", flüsterte sie so leise, dass niemand es hören konnte. War das normal? Oder stimmte etwas nicht mit ihr? Was würde Sophie sagen? Vermutlich: "Du musst dich nur öffnen, Lena. Wie soll dich jemand kennenlernen, wenn du dich hinter deinen Büchern versteckst?" Aber warum fühlte sich jedes "Hey, willst du mit uns einen Kaffee trinken?" an wie eine Prüfung, für die sie nicht gelernt hatte? Warum konnte sie nur in diesen stillen Momenten zwischen Buchregalen wirklich atmen?

Trotzdem konnte sie manchmal die leise Stimme nicht ignorieren, die fragte, ob sie nicht etwas verpasste. Ob es da draußen jemanden gab, der sie verstehen würde, wenn sie nur den Mut hätte, sich zu öffnen. "Entschuldige", flüsterte jemand neben ihr, und Lena zuckte zusammen, als hätte man sie aus einem Traum gerissen. Ein junger Mann mit kurzen dunklen Haaren und einer randlosen Brille stand dort. Seine Augen - dunkelbraun mit einem interessanten goldenen Schimmer - trafen ihre, und für einen Moment vergaß sie zu atmen.

Er lächelte, ein schiefes, entschuldigendes Lächeln, das etwas in ihr berührte. "Ich muss mal an das Regal." Seine Stimme war tief und angenehm, mit einer Wärme, die sie nicht erwartet hatte. "Oh, natürlich." Lena trat hastig zur Seite und stieß dabei gegen ein Bücherregal. Mehrere Bände drohten umzufallen, und sie griff panisch danach, während ihr Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate annahm. 'Fantastisch, Lena. So macht man Eindruck.'

Der Student fing geschickt einen der fallenden Bände auf. "Scheint, als würde Fontane unbedingt Aufmerksamkeit wollen", sagte er mit einem Augenzwinkern, das ihren Herzschlag beschleunigte. Er zog ein Buch heraus und betrachtete es kurz. Dann blickte er wieder zu ihr, schien kurz zu zögern, als wollte er etwas sagen, nickte ihr dann aber nur freundlich zu und ging.

Lena atmete erst wieder richtig, als er außer Sichtweite war. Diese kurzen sozialen Interaktionen waren ein Minenfeld, und sie hatte gerade wieder einmal bewiesen, warum sie lieber mit Büchern als mit Menschen kommunizierte. Einundzwanzig Jahre alt und immer noch unfähig, mit einem attraktiven Mann zu sprechen, ohne sich zum Komplettidioten zu machen. 'Du solltest öfter unter Menschen gehen', hatte Sophie gesagt, bevor sie in eine andere Stadt gezogen war. 'Wie willst du sonst jemals jemanden kennenlernen?'

Lena seufzte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Büchern zu. Ihre Hand blieb bei „Effi Briest" stehen - Fontanes Meisterwerk über eine junge Frau, die an den erstickenden Konventionen ihrer Zeit zerbricht. Sie zog das Buch heraus. 'Vielleicht geht es dir wie Effi', flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. 'Gefangen zwischen dem, was du willst, und dem, was du zu sein glaubst.'

Das Buch war eine ältere Ausgabe, der Einband abgegriffen, die Seiten vergilbt, als hätte es schon hunderte Geschichten mit anderen Lesern geteilt. Wie viele einsame Studenten hatten sich wohl schon in Effis Geschichte verloren? Wie viele hatten sich in ihr wiedererkannt? Mit dem Buch in der Hand ging sie zu einem abgelegenen Leseplatz am Fenster. Die Nachmittagssonne tauchte alles in warmes Licht, und für einen Moment fragte sie sich, ob der Student mit der Brille das Buch gesucht hatte, das sie jetzt in Händen hielt.

Lena setzte sich, schlug das Buch auf und tauchte ein in Effis Geschichte - die Geschichte einer jungen Frau, die heiratet, ohne zu wissen, was Liebe eigentlich bedeutet, die gesellschaftliche Erwartungen über eigene Bedürfnisse stellt und daran zerbricht. 'Was würde ich tun?', fragte sie sich. 'Wenn ich zwischen Herz und Verstand wählen müsste?'

Als sie zu Kapitel fünf kam, blieb ihr Blick an etwas Ungewöhnlichem hängen. Am Rand der Seite 27 stand eine handschriftliche Notiz in blauer Tinte, die Schrift ordentlich und fast elegant: „Ist es nicht merkwürdig, wie Effi zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und eigenen Wünschen zerrieben wird? Manche Dinge ändern sich nie, nicht wahr? -- J."

Lena starrte auf die Notiz, ihr Herzschlag beschleunigte sich. In Bibliotheksbüchern zu schreiben war ein ungeschriebenes Tabu - aber diese Bemerkung war so treffend, so persönlich, als hätte jemand ihre eigenen Gedanken aufgeschrieben. J. Wer war J.? Männlich? Weiblich? Jemand, der die gleichen Fragen an das Leben stellte wie sie?

Es war keine gewöhnliche Kritzelei oder belanglose Anmerkung, wie man sie manchmal in Lehrbüchern fand. Diese Worte kamen von jemandem, der nicht nur las, sondern fühlte, der zwischen den Zeilen las und Parallelen zur eigenen Welt zog. Dieser mysteriöse "J." stellte eine Frage, die direkt an künftige Leser gerichtet schien - an sie.

Sie las die Textpassage, neben der die Notiz stand. Effi und Innstetten sehen sich nach seiner Werbung zum ersten Mal wieder - zwei Menschen, die heiraten werden, ohne sich zu kennen, ohne zu wissen, ob ihre Herzen im gleichen Takt schlagen. 'Wie viele Menschen machen das heute noch?', dachte Lena. 'Zusammen sein, weil es erwartet wird, nicht weil es sich richtig anfühlt?'

Sie dachte an ihre letzte WG-Party, als Sophie sie überreden wollte, mit diesem BWL-Studenten zu flirten. "Er ist perfekt für dich", hatte sie gesagt. "Seine Eltern haben eine Kanzlei, er fährt einen Audi..." Als ob das die Dinge wären, die zählten. Als ob Liebe eine Checkliste wäre.

Ein plötzlicher Impuls überkam sie. Dieser unbekannte J. hatte etwas in ihr berührt, eine Seite angeschlagen, die resonierte. Bevor sie ihren Mut verlieren konnte, holte sie ihren Kugelschreiber heraus und schrieb direkt unter die Notiz: „Die Formen ändern sich, aber der Druck bleibt. Heute zerreiben wir uns zwischen Authentizität und Selbstoptimierung. Fortschritt? -- L."

Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Stift absetzte. Sie, Lena Winter, Musterbeispiel für Regelkonformität, hatte gerade ein Bibliotheksbuch beschmiert! Eine Welle von Schuldgefühlen überkam sie, gefolgt von einem unerwarteten Kribbeln der Aufregung. Es fühlte sich an wie ein Geheimnis, ein intimer Moment zwischen zwei Fremden, die sich durch nichts verbunden fühlten außer durch ihre Gedanken.